Forschungsprojekt
Im Rahmen des gemeinsamen Forschungsprojektes „Zahnmedizin und Zahnärzte im Nationalsozialismus“ von Kassenzahnärztlicher Bundesvereinigung (KZBV), Bundeszahnärztekammer (BZÄK) und der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde (DGZMK) in Kooperation mit dem Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen und der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf wurde seit September 2016 die Rolle der Zahnheilkunde im NS-Regime systematisch aufgearbeitet. Das bundesweit einmalige Projekt bietet die erste umfassende historisch-kritische Darstellung der Geschichte der Zahnärzteschaft und ihrer Organisationen in den Jahren 1933 bis 1945 sowie in der Nachkriegszeit.
Erhebliche Verstrickung von Zahnärzten, Kieferchirurgen und Standespolitikern
Das Forschungsprojekt dokumentiert die zum Teil erhebliche Verstrickung von Zahnärzten, Kieferchirurgen und zahnärztlichen Standespolitikern in das politische System des Nationalsozialismus. Bindeglied des NS-Staates sollte die völkisch und rassisch ausgerichtete Solidarität aller sogenannten „Volksgenossen“ sein. In diese vermeintliche Gemeinschaft wurde auch die Zahnärzteschaft autoritär eingebunden. Mithilfe der NS-Gesundheitspolitik und der staatlichen Gesundheitsverwaltung, aber auch neu geschaffener zahnärztlicher Standesorganisationen, wurden Strukturen installiert, die diese totalitäre Einbindung verlässlich gewährleisteten. Die zahnärztliche Berufsausübung und auch die Wissenschaft wurden so an den Zielen des NS-Staates ausgerichtet.
Zahnärzte und ihre berufsständischen Vertreter haben damals ihren eigentlichen Auftrag, ihre Patientinnen und Patienten zu behandeln und nach bestem Wissen und Gewissen zu heilen, vielfach missachtet oder vorauseilend im Sinne der NS-Ideologie interpretiert. Zum Beispiel als Mitglieder der berüchtigten Schutzstaffel (SS) waren Zahnärzte in Konzentrationslagern für Selektionen von Inhaftierten und für die Sicherung von Zahngold mitverantwortlich, das den Opfern in den Lagern nach ihrer Ermordung geraubt wurde. Furchtbare Bedeutung erlangten Zahnärzte und Kieferchirurgen auch durch pseudowissenschaftliche Interpretationen von Missbildungen von Mund, Kiefer und Gesicht vor dem Hintergrund der NS-Rassenlehre. Die Mehrheit der Täter konnte ihre Karrieren nach Kriegsende fortsetzen.
Zahnärzte waren aber nicht ausschließlich Täter, sondern auch Opfer des nationalsozialistischen Regimes oder schlossen sich in Einzelfällen dem Widerstand gegen Hitler an. Besonders jüdische Zahnärzte wurden mit Berufseinschränkungen oder -verboten belegt, vertrieben und ermordet. Auch diesen Biografien wurde bei der wissenschaftlichen Aufarbeitung nachgegangen.
Einzelstudien und Promotionsarbeiten – zum Teil in englischer Sprache – Bücher sowie in Kürze ein zweibändiges Personenlexikon und ein Online-Projekt beleuchten gleichermaßen die Rolle von Zahnärzten als Täter sowie auch die Schicksale von verfolgten Zahnärztinnen und Zahnärzten als Opfer. Gegenstand der Forschung waren unter anderem Präsidenten und Ehrenmitglieder zahnärztlicher Fachgesellschaften im „Dritten Reich“, NSDAP-Mitglieder unter Hochschullehrern und Zahnärzte als Angeklagte vor Gericht nach 1945. Zudem wurden die Biographien von Standespolitikern vor und nach dem Krieg untersucht und in einem eigenen Arm des Forschungsprojekts zahlreiche Biographien von verfolgten Zahnärztinnen und Zahnärzten nachgezeichnet.
Berufsstand stellt sich mit dem Forschungsprojekt seiner Verantwortung
Für die Zahnärzteschaft reicht diese Aufarbeitung mit vielversprechenden Ansätzen bis in die 80er Jahre zurück. Das Forschungsprojekt umfasst jedoch erstmals eine zusammenhängende Darstellung der Geschichte der Zahnärzteschaft und ihrer Organisationen im nationalsozialistischen Unrechtsstaat. Neben reiner Wissensvermittlung soll dabei auch die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit, in den Medien, in der Politik und nicht zuletzt auch im zahnärztlichen Berufsstand selbst dafür befördert werden, dass die Zahnärzteschaft und ihre Selbstverwaltungskörperschaften mit dieser systematisch-wissenschaftlichen und (selbst)kritischen Aufarbeitung dieses dunklen Teils ihrer Geschichte gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernimmt – jenseits von fachlichen Aufgaben. Mit der Übernahme dieser Verantwortung für die eigene Vergangenheit sollen auch Lehren für ein gewissenhaftes Handeln in Gegenwart und Zukunft abgeleitet werden.
Verpflichtung für die Gegenwart, Mahnung für eine bessere Zukunft
Mit der Aufarbeitung der NS-Geschichte des Berufsstandes durch unabhängige Wissenschaftler bekennt sich die Zahnärzteschaft zu ihrer Vergangenheit. Diese ist zugleich auch eine Verpflichtung für die Gegenwart sowie eine Mahnung für eine bessere Zukunft. Rassismus, Ausgrenzung Hass, Gewalt und Diskriminierung jedweder Form gegen Kolleginnen und Kollegen sowie gegen Patientinnen und Patienten wird der zahnärztliche Berufsstand immer und überall entschieden entgegentreten. Das gemeinsame Projekt zur Aufarbeitung der NS-Geschichte, welches aus dem Berufsstand heraus initiiert wurde, ist damit integraler Bestandteil des gemeinwohlorientierten Selbstverständnisses der Zahnärzteschaft. Durch die Aufklärung über die eigene Vergangenheit erhofft sich der Berufsstand Impulse in ethischen Fragen, die heute und künftig alle Zahnärztinnen und Zahnärzte betreffen. Denn nur ein Berufsstand, der sich seiner Vergangenheit stellt, kann zuversichtlich in die Zukunft schauen.
Pressemitteilung, Pressemappe und Fotos der Pressekonferenz
Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen
Dossiers zum Forschungsprojekt
Dossier 1: Der Anteil der NSDAP-Mitglieder unter den zahnärztlichen Hochschullehrern
Dossier 3: „NS-Zahnärzte“ als Angeklagte vor Gericht
Dossier 4: Zahnärzte in der Waffen-SS und in den Konzentrationslagern
Zusammenfassung: Verfolgte Zahnärztinnen und Zahnärzte im Nationalsozialismus