Wendepunkte
Vorwort
Kaum ein Thema hat die Menschen weltweit in den vergangenen Monaten so sehr bewegt wie die rasante Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2. Durch die Pandemie werden viele alte Gewissheiten grundlegend in Frage gestellt. Die dadurch bedingte spontane und umfassende Neujustierung der politischen Agenda hat auch die Zahnärzteschaft nachhaltig beeinflusst. Wir stehen in diesem Jahr an einem entscheidenden Wendepunkt und noch ist nicht absehbar, welche langfristigenKonsequenzen die Krise hat – für die flächendeckende, wohnortnahe und qualitativ hochwertige Versorgung und für den Berufsstand.
Fest steht: Corona hat unsere Arbeitsbedingungen grundlegend verändert. Wir wurden unvermittelt vor neue Aufgaben gestellt und mussten Entscheidungen treffen, die alle Kräfte bis an die Grenzen der Belastbarkeit beansprucht haben. Aber auch in dieser schwierigen Situation ist es gelungen, gemeinsame Lösungen und ein effizientes Krisenmanagement umzusetzen. Das Infektionsrisiko in Zahnarztpraxen konnte minimiert, die Versorgung bei maximalem Infektionsschutz aufrechterhalten und die Schmerz- und Notfallversorgungvon infizierten und unter Quarantäne stehenden Patientinnen und Patienten gewährleistet werden. Dafür gilt allenZahnärztinnen, Zahnärzten und ihren Teams die Hochachtung und der herzlichste Dank des Vorstandes der Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung. Sie waren für ihre Patienten da, als es drauf ankam!
Aus dem Stand wurde ein Netz von Behandlungszentren in 30 Kliniken und 170 Schwerpunktpraxen für die Akut- und Notfallversorgungaufgebaut, um Patienten zu behandeln, die mit SARS-CoV-2 infiziert waren oder als Verdachtsfall unter Quarantäne gestelltwurden. Daneben wurde mit traditionell hohen Hygienestandards der Schutz vor Ansteckungen gewährleistet. Diese und weitere Maßnahmen dienten dazu, die Ausbreitung des Virus durch zahnärztliche Behandlungen weitestgehend zu vermeiden, das Infektionsrisikofür Patienten und Praxispersonal zu reduzieren und die langfristige Sicherstellung der Versorgung zu ermöglichen.
Frühzeitig hat die KZBV im politischen Raum die Notwendigkeit von Finanzierungshilfen für Zahnarztpraxen adressiert, um deren Existenz zu sichern. Allein zwischen Mitte März und Mitte Mai 2020 sind im Vorjahresvergleich Rückgänge im Leistungsvolumen vonbis zu 40 Prozent festzustellen. Das verantwortungsbewusste Handeln der Zahnärzteschaft zur Minimierung von Infektionsrisikensowie die Angst vieler Patienten vor Ansteckung haben in der Krise zu massiv gesunkenen Behandlungszahlen geführt. Teils erhebliche Honorarrückgänge, finanzielle Schwierigkeiten und Existenznöte waren und sind direkte Folgen, die besonders junge Praxen und Gründer zu spüren bekommen. Zugleich wird ein verheerendes Signal an Studierende und angestellte Zahnärzte ausgesandt, die eine Niederlassung planen. Zu befürchten ist, dass es perspektivisch zu Substanzverlusten in der Versorgung kommt.
Bereits im März haben wir daher im Krisenstab des Bundesgesundheitsministeriums einen dringenden Appell an den Ministergerichtet und die Systemrelevanz der vertragszahnärztlichen Versorgung herausgestellt. Unsere Positionierungen haben wir durch intensive Medienarbeit begleitet. Umso unverständlicher ist es, dass die Politik die Leistungen des Berufsstandes nicht anerkannt hat. Aufgrund existenzgefährdender Fallzahlrückgänge haben wir über Wochen und Monate im hochfrequentierten Austausch mit BMG und Parlamentariern dafür gekämpft, dass der finanzielle Schutzschirm für Krankenhäuser und Ärzte auf Zahnarztpraxen ausgeweitet wird. Dennoch haben wir keine Berücksichtigung im Krankenhausentlastungsgesetz gefunden. Auch die COVID-19-Versorgungsstrukturen-Schutzverordnung, in der unsere Forderung nach paritätischer Lastenteilung zwischen Kassen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen bereits beschnitten war, wurde durch das Bundesfinanzministerium auf eine Liquiditätshilfe mit Rückzahlungspflicht und viel Bürokratieaufwand gestutzt.
Neben negativen Auswirkungen auf die Patientenversorgung droht der Verlust von Arbeitsplätzen. Zusammen mit den Praxisinhabern sind deutschlandweit etwa 365.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Zahnarztpraxen tätig, davon rund 32.000 Auszubildende. Werden zusätzlich Arbeitsplätze in Laboren, im Dentalhandel und in der Industrie berücksichtigt, so geht es um fast eine halbe Million Arbeitsplätze!
Festzuhalten bleibt, dass uns die Politik echte Unterstützung verweigert hat, während Ärzte, Psychotherapeuten, Kliniken, Rehabilitations- und Pflegeeinrichtungen sowie andere Branchen diese erhalten haben. Unsere weltweit als beispielhaft anerkannte Versorgung mit einem flächendeckenden und wohnortnahen Praxisnetz sowie herausragenden Ergebnissen bei der Mundgesundheit wurde durch diese Verweigerungshaltung akut gefährdet.
Den gesetzlichen Kassen werfen wir vor, sich in dieser historischen Krise der gemeinsamen Sicherstellungsverantwortung entzogen zu haben, indem eine paritätische Lastenteilung beim ursprünglich geplanten Schutzschirm abgelehnt wurde. Unsolidarisch zeigte sich auch die Private Krankenversicherung: Trotz Gesprächsversuchen ist der PKV-Verband weder der Vereinbarung mit der Gesetzlichen Krankenversicherung zu zentral beschaffter Schutzausrüstung beigetreten, noch hat er sich an einem Rettungsschirm beteiligt.
Wir verstehen, dass die Enttäuschung über einige politische Ergebnisse der vergangenen Monate bei vielen Kolleginnen und Kollegen tief sitzt. Denn vermittelt wird der bittere Anschein, dass die Zahnärzteschaft in bestimmten politischen Kreisen nicht den Stellenwert besitzt, den sie als systemrelevante Berufsgruppe und Teil der Daseinsvorsorge verdient.
Allen Widrigkeiten zum Trotz gilt es jedoch, sich mit vereinten Kräften aus dieser schwierigen Lage zu befreien, auch mit Blick auf die Evaluation der COVID-19-Versorgungsstrukturen-Schutzverordnung, mit der im Herbst die wirtschaftliche Auswirkung auf Zahnarztpraxen ermittelt werden soll. Bei dieser Gelegenheit muss auch die Stärke eines freiberuflichen, selbstverwalteten und gemeinwohlorientierten Gesundheitssystems wieder mehr herausgestellt werden.
Die Corona-Krise hat in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft schwere Turbulenzen ausgelöst und andere Themen medial ins Abseits gedrängt. Sie darf aber nicht den Blick verstellen auf die weiterhin ungemein hohe Taktrate der vielen Gesetzesvorhaben des BMG und die Bandbreite öffentlich gesetzter Themen – von der Digitalisierung bis zur Ausrichtung des Gesundheitssystems und dessen Selbstverwaltung.
Die englische Dichterin und Autorin Maria Robinson hat – mit Blick auf Wendepunkte im Leben – geschrieben, dass niemand die Zeit zurückdrehen und noch einmal von vorne anfangen kann. Aber jeder kann heute beginnen, eine neue Zukunft zu gestalten. Die KZBV und die 17 KZVen der Länder greifen diese Einstellung auf und bleiben in der politischen und öffentlichen Diskussion „am Ball“. Für die Zahnärzteschaft ist es jetzt wichtiger denn je, den politischen Dialog zu suchen und die Auswirkungen von Corona auf unsere Praxen sachlich und klar in der Argumentation mit belastbare Analysen und Auswertungen zu untermauern.
Wir appellieren an den gesamten Berufsstand: Lassen Sie uns nach vorne blicken, Herausforderungen gemeinsam angehen und die flächendeckende und wohnortnahe Versorgung der Menschen weiterhin gut gestalten. Lassen Sie uns zeigen, dass wir geschlossen zusammenstehen und uns nicht entmutigen oder auseinanderdividieren lassen – gerade in schwierigen Zeiten wie diesen.
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