Rede Dr. Karl-Georg Pochhammer
Es gilt das gesprochene Wort.
Sehr geehrter Herr Vorsitzender,
sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
auch ich möchte Sie zu unserer Vertreterversammlung begrüßen. Herzlich willkommen in der Bundesstadt Bonn.
In diesem Jahr haben wir 75 Jahre Grundgesetz gefeiert. Der Parlamentarische Rat hat damals gar nicht weit von hier beraten. Als Wiege der deutschen Demokratie, aber auch als Regierungssitz der Bonner Republik bietet Bonn viele Anknüpfungspunkte für politische Erfolgsgeschichten.
Ich hätte meinen Bericht zur Telematik daher gerne mit etwas begonnen, das gut in diese Tradition passt, aber es tut mir leid, ich muss von der Gesundheitspolitik der Ampelregierung berichten.
Eine letzte Verbindungslinie zur Bonner Republik, die mir einfällt, ist, dass das Bundesgesundheitsministerium (BMG) weiterhin seinen ersten Dienstsitz hier am Rhein hat. Politische Erfolgsgeschichten habe ich auch nach konzentriertem Nachdenken keine gefunden. Das einzige, was im BMG verlässlich funktioniert, ist die Ankündigung und die Bürokratie. Elan blitzt immer nur dann auf, wenn es darum geht, die Zukunft blumig zu beschreiben oder die Praxen mit Sanktionen und Fristen zu überziehen. Man kann das aktuell sehr schön am Beispiel der „elektronischen Patientenakte für alle“ oder kürzer ePA 3.0 sehen. Die hat zweifelsohne das Potential, die Versorgung zu verbessern, aber leider lernt das BMG nicht aus seinen Fehlern.
Sigmund Freud hat mit dem Begriff von Wiederholungszwang den menschlichen Impuls begründet, Situationen und Handlungen zu wiederholen, obwohl man damit sich und andere quält. Schon wahr, Freud ist schon lange tot, aber viel besser kann man heute die Pläne des BMG zur Einführung der neuen ePA nicht erklären.
Die aktuelle Version der ePA ist ein Flop. Sie ist so irrelevant, dass sich irgendwann nicht einmal mehr die Praxen empört haben. Ein solcher Fehlschlag wäre ein guter Grund, es im zweiten Versuch besser zu machen. Aber auch diesmal verzichtet das BMG auf einen seriösen Rollout. Dafür hat der Gesundheitsminister eine Vision: „Jetzt gestalten wir mit der ‚elektronischen Patientenakte für alle‘ die Medizin der Zukunft.“
Man ist beinahe verwundert, dass er in dem Satz nicht noch die Begriffe „KI“ und „Forschungsdaten“ untergebracht hat, aber auch so wird klar: Der Minister kümmert sich um die ganz großen Linien. Mit den Unwägbarkeiten der praktischen Umsetzung hat der Mann nichts mehr zu tun. Ich würde ihm dennoch empfehlen, die Rollout-Pläne für die ePA nochmal zu durchdenken. Denn das Großprojekt soll in nur vier Wochen in den Telematikinfrastruktur (TI)-Modellregionen Hamburg und Franken getestet werden. Das ist eine Idee, die so wirkt, als habe sie ein Mensch mit Höhenangst entwickelt, nachdem er eine Nacht auf einem Klettersteig an der Zugspitze verbringen musste.
Ganz kurz zur Erinnerung: Das Projekt hat viele unterschiedliche Elemente, darunter über 100 Software-Module, eine ähnliche Anzahl von Krankenkassen-Apps sowie Dutzende Spezifikationen und andere technische Vorgaben. Zwischen all diesen Elementen bestehen Abhängigkeiten. Hinzu kommen eine beachtliche Anzahl von Projektbeteiligten, ein kompliziertes Projektumfeld und viele Unsicherheiten. Einfacher formuliert: Vier Wochen sind ein schlechter Scherz. Das ist magisches Projektmanagement.
Der Vorstand hat Ihnen daher einen Antrag vorgelegt, in dem wir eine Verschiebung des Einführungstermins und eine seriöse Testphase einfordern. Maßgabe muss sein, dass die ePA 3.0 vom ersten Tag an in den Praxen mit der Software schnell und reibungslos genutzt werden kann. Erst wenn dieser Nachweis für eine repräsentative Stichprobe in den Testregionen erbracht worden ist, kann die ePA flächendeckend eingeführt werden.
Wie bekommen wir eine ePA in die Versorgung, die Praxen sowie Patientinnen und Patienten gerne nutzen? Man sollte meinen, dass man sich im BMG mit nichts anderem beschäftigt. Aber weit gefehlt, dort dreht sich nach wie vor alles um den Termin, nicht um die Qualität. Das zeigen auch die Kriterien, die darüber entscheiden sollen, ob die sogenannte Testphase erfolgreich abgeschlossen worden ist: Das geplante Mengengerüst sieht u. a. vor, dass 5-15 Zahnarztpraxen und eine (!) zahnärztliche Praxissoftware an der Erprobung teilnehmen sollen.
Das ist eine Seifenblasen-Stichprobe, aber es wird noch besser. Im Pilotierungskonzept, das sich an vielen Stellen liest wie die Anleitung zu einem Perpetuum Mobile, steht folgender Satz: „Sollte sich ab Dezember 2024 abzeichnen, dass die Mindestanzahl nicht erreicht werden kann, (...), kann die Mindestanzahl nach Rücksprache mit der gematik angepasst werden.“
Im Fall der zahnärztlichen Praxisverwaltungssysteme (PVS) wäre die Zahl dann Null. Der praktische Nachweis, dass auch das buchstäbliche Nichts noch zu brauchbaren Erkenntnissen führt, steht zwar noch aus, aber ich bin mir sicher, im BMG wird sich jemand finden, der uns erklärt, warum auch diese Stichprobe noch als Abbild der Grundgesamtheit zahnärztlicher PVS durchgeht. Das ist eine ganz neue Form von Qualitätsmanagement. Man fragt nicht, was dem Projekt nutzt, sondern man senkt die Anforderungen solange ab, bis man sicher sein kann, dass der gesetzlich vorgegebene Termin sicher eingehalten werden kann.
Selbstverständlich, Sie ahnen es, ist keine Entscheidung der Gesellschafterversammlung der Gematik über die Einhaltung der schwachen und vom BMG diktierten Kriterien geplant. Stattdessen wird der Gesundheitsminister selbst mitteilen, wann die Nutzung der ePA ihre Wirkung entfaltet. Noch so eine tolle Idee: Der Mann, der es gar nicht erwarten kann, dass die Daten aus der ePA für Forschungs- und KI-Zwecke genutzt werden, trifft allein die Entscheidung. Auch das ist ein ganz neuer Ansatz: „eminenzbasierte“ Medizin.
Das BMG dreht die Schraube aber noch weiter: An die Stelle eines Rollouts, der Gehalt und Struktur hat, treten die üblichen Sanktionsdrohungen und neuerdings auch Werbung. Der neuen Themenseite des BMG kann man entnehmen, dass die ePA ein „Meilenstein für das Gesundheitswesen“ sei und „die komplette Krankengeschichte auf einen Blick“ ermögliche. Auch viele Krankenkassen wecken bei ihren Versicherten große Erwartungen und rufen bereits das Ende der Zettelwirtschaft aus.
Es stimmt schon, wir haben immer gefordert, dass BMG und Krankenkassen mehr zur ePA informieren, aber für solche Versprechen ist es viel zu früh. Die wird in 2025 niemand erfüllen können. Es spricht einiges für die Annahme, dass ein solches Erwartungsmanagement den Puls und das Frustpotential in den Praxen im neuen Jahr weiter steigen lässt.
Ich erinnere auch daran, dass die Gematik regelmäßig eine Störung an einer für die ePA relevanten technischen Komponente mitteilen muss. Das fällt heute kaum auf, sollten bald aber tatsächlich 80 Prozent der Versicherten eine ePA nutzen, ist in den Praxen der Teufel los. Und würde das alles noch nicht reichen, soll nur vier Monate nach dem Einführungstermin bereits die nächste Ausbaustufe mit dem Medikationsplan kommen.
Man muss schon ein sehr lockeres Verhältnis zur Verantwortung haben, um die Praxen so schamlos vor den Karren der eigenen politischen Agenda zu spannen. Denn der Zweck dieser Hauruck-Aktion ist ja mitnichten die nachhaltige Verbesserung der Gesundheitsversorgung. Unausgereifte Technik macht gar nichts besser. Es geht nur darum, die ePA 3.0 unbedingt noch in dieser Legislaturperiode einzuführen.
Deshalb die große Eile. Deshalb die grotesken Kriterien. Deshalb die blumigen Ankündigungen. Deshalb die drohenden Sanktionen. Und deshalb auch die Arroganz, mit der das BMG die Kritik abbügelt, die wir und andere aus der Selbstverwaltung am Zeitplan geäußert haben. Aber so ist das im BMG. Man lässt sich seine Pläne nicht von Sachkenntnis oder der Wirklichkeit kaputtmachen.
Umso wichtiger ist es, dass wir, die KZBV und die Kassenzahnärztlichen Vereinigungen (KZVen), die Zahnarztpraxen bei der Einführung unterstützen – mit Informationen und Veranstaltungen. So intensiv und berechtigt unsere Kritik am Rollout der ePA auch ist, sie allein schützt die Praxen nicht vor den drohenden Sanktionen. Aus diesem Grund haben wir wichtige rechtliche Fragen zur Befüllung, Information, Einsichtnahme und Dokumentation geklärt. Das soll den Praxen Sicherheit im Umgang mit der ePA geben.
Diese und weitere Informationen sowie Hinweise zu Veranstaltungen und Fortbildungen tragen wir auf einer ePA-Themenseite für interessierte Praxen zusammen. Gleichzeitig engagieren wir uns aktiv in Arbeitsgruppen zum Medizinischen Informationsobjekt (MIO) „Bildbefund“ und in den Workshops der Gematik, um die Interessen der Zahnärzteschaft bei der Weiterentwicklung der ePA einzubringen. Das machen wir in dem Sinne, den ich hier vorgetragen habe: Wir bleiben kritisch in Sachen Zeitplan und Sanktionen, aber wir arbeiten konstruktiv an der Entwicklung der ePA mit und vermitteln sachlich Informationen.
Weil wir unsere Praxen unterstützen, aber auch weil die ePA, wenn sie funktionsfähig ist, natürlich auch Chancen für die zahnmedizinische Behandlung bietet. Denken Sie nur an die Parodontitis und ihre Wechselwirkungen.
Was wie ein komplizierter Spagat klingt, ist in der Tat eine schwierige Übung. Aber sie ist notwendig, um die Zahnarztpraxen bestmöglich auf die neue ePA vorzubereiten. Wir können nicht ändern, dass das BMG den Rollout übers Knie bricht, aber wir können gemeinsam etwas dafür tun, dass die Überraschungen für die Zahnarztpraxen nicht zu groß ausfallen. Dazu gehört auch die Frage der TI-Finanzierung. Denn jede neue TI-Anwendung hat eine neue Rechnung im Schlepptau. Da kann die Software noch so ruckeln, die Rechnungsstellung funktioniert verlässlich wie ein Schweizer Uhrwerk.
Diese ungute Mischung trifft auf einen Finanzierungsmechanismus, der schon heute die Kosten nicht vollständig ausgleicht. Das ist ernüchternd, aber auch nicht überraschend. Wir haben früh darauf hingewiesen, dass die Festlegung des BMG der Industrie keine Anreize gibt, ihre Preise anzupassen. Die Vereinbarung muss viel klarer benennen, was von der Pauschale umfasst ist, damit die Anbieter sich ihren Anteil nicht schönrechnen. Denn insbesondere bei den Zugangsdienstanbietern steht die Pauschale hoch im Kurs und dient bei Preiserhöhungen gerne als Trostpflaster. Ich zitiere aus dem Schreiben eines Herstellers: „Die monatliche Gebühr (...) liegt damit weiterhin unterhalb der gestiegenen TI-Pauschale, welche Sie erhalten.“
Das ist natürlich großer Unsinn, weil die Praxen mit der Pauschale nicht nur die Betriebskosten für den TI-Zugang abdecken müssen. Man kann sich zwar auf den Standpunkt stellen, dass es zum Geschäft gehört, wenn die Industrie die Pauschale so auslegt, dass sie ihren wirtschaftlichen Interessen nutzt, sehr ärgerlich sind diese Schreiben trotzdem.
Und das Problem wird noch größer, weil das BMG mit neuen Sanktionen (Stichwort Abrechnungsverbot) in Richtung der Industrie gezielt, aber im Ergebnis doch nur wieder die Praxen getroffen hat. Die aktuelle Finanzierungsregelung steht für uns auch deshalb auf dem Prüfstand, weil sie die notwendigen Softwareanpassungen für die neue ePA nicht berücksichtigt, was erkennbar zum Nachteil der Praxen wirkt.
In Kürze werden die PVS-Hersteller ihre Rechnungen für die ePA-Anpassungen in der Praxissoftware verschicken. Das sind komplett ungedeckte Kosten. So geht das nicht. Selbst im BMG könnte man irgendwann auf die Idee kommen, dass der Digitalisierungswillen der Praxen leidet, wenn sich die Kosten-Nutzen-Schere immer weiter öffnet.
Der Minister kommt aus einer Partei, in der man die Subventionsgießkanne in der Regel schnell zur Hand hat, wenn ein Problem ausgemacht wird. In diesem Sinne fördert auch das BMG allerlei Randthemen, z. B. das Projekt „Männerschuppen als Orte der Prävention und Gesundheitsförderung im kommunalen Setting für Männer ab 50 Jahren“. Wenn es dann aber um die Förderung ihrer Digitalisierungsprojekte geht, findet das BMG partout kein Geld mehr.
Das wollen wir nicht akzeptieren. Wer die Digitalisierungsprojekte andenkt, andere dann aber die ganze Arbeit erledigen lässt, der muss auch dafür sorgen, dass die anfallende Arbeit anständig bezahlt wird. Wir erwarten hier ein viel stärkeres Engagement des BMG. Die Finanzierung muss die Kosten decken. Das ist und bleibt unsere Forderung. An uns liegt es nicht. Der GKV-Spitzenverband muss sich bewegen.
Die Kosten für die Digitalisierung steigen und steigen. Die ePA für alle wird das bekräftigen. Hier haben BMG und Krankenkassen die Erwartung geweckt, dass im neuen Jahr alles besser wird. Das ist mit Blick auf die Probleme, die ich geschildert habe, äußerst fahrlässig. Wie groß die Lücke zwischen den Erwartungen und den Ergebnissen der Testphase tatsächlich ist, werden wir schon im Januar sehen.
Niemand kann annehmen, dass der Rolloutplan funktioniert. Viel wahrscheinlicher ist, dass die Einführung der neuen ePA sperriger verläuft als im BMG gedacht. Trotzdem werden die Zahnarztpraxen gut vorbereitet sein. Die Technik wird, soweit verfügbar, installiert und die Arbeitsabläufe werden angepasst sein.
Im BMG schimpfen sie gerne über das Digitalisierungstempo. Aber wie große wäre dort der Katzenjammer, wenn der Digitalisierungswille der Praxen tatsächlich sinken würde? Das BMG ist mit der Harakiri-Einführung der neuen ePA auf einem guten Weg, das herauszufinden. Es reicht nicht, immer nur Zukunftsreden zu schwingen. Man muss sich im BMG endlich mal für das interessieren, was ist.
Bezogen auf die neue ePA sind das zwei zentrale Punkte:
- Die ePA muss schnell und ohne zusätzlichen Aufwand in der Praxissoftware funktionieren. Das muss getestet und durch das Erreichen von Quality Gates bestätigt werden. Dann kann sie ausgerollt werden.
- Die Kosten, die den Praxen im Rahmen der Vorbereitung auf die ePA entstehen, müssen refinanziert werden. Die Anstrengungen der Praxen müssen anständig bezahlt werden.
Manchmal sind die Dinge auch in der TI ganz einfach: Die Einführung der neuen ePA wird nur dann gelingen, wenn das BMG seine Ansprüche an die Wirklichkeit anpasst.
Damit schließe ich meinen Bericht, danke für Ihre Aufmerksamkeit und stehe gerne für etwaige Fragen zur Verfügung.
Bild: © KZBV/Spillner